8.3.

2007
Täglich telefoniert Kiki mit ihrer Schwester. Die beiden Frauen sprechen sich aus. Desirée schildert ihre Nöte, schreibt lange Briefe an alle Verwandten. Eines Abends weint Desirée. Sie hat mit Ursle telefoniert, die ihr seltsam vorkam. Ursle hat Desirée mitgeteilt, dass sie sie abtreiben wollte. Desirée rastet total aus. Kiki ist wütend, ruft die Mutter an und stellt sie zur Rede.
Die Schwester bricht den Kontakt zu allen Verwandten ab.

Eigentlich hätte Kiki bemerken sollen, dass irgendetwas mit Ursle nicht mehr stimmte. Zwar hatte diese schon seit mehreren Jahren Problemen, sich an Namen zu erinnern, doch nun wurde es von Monat zu Monat schlimmer. Kiki regt sich derart auf, dass sie für mehrere Monate den Kontakt abbricht.
Als sie im Juni beruflich nach Ebnat-Kappel reist, brechen sämtliche alten Wunden auf. Sie ruft Ursle an und sie sprechen über Ursles Kindheit, die Trauer und über all jene Dinge, für die sie nie Zeit hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfindet Kiki Ursle als nüchtern. Als sie fertig sind, bedankt sich Ursle für das Gespräch.

Juli 2007. Kiki wird 30 Jahre alt. Die Mutter ruft sie nicht an. Nimmt das Telefon nicht ab. Ein paar Tage später versucht Kiki es nochmals. Ursle nimmt ab, klingt aber sturzbetrunken, kann sich während des Sprechens nicht mehr wach halten. Am nächsten Tag wird Kiki im Geschäft von Priska angerufen. Ursle ist auf der Intensivstation. Es geht zu Ende.

Kiki hat Angst. Sie bemerkt, dass sie ihre Mutter seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hat. Sie haben immer nur telefoniert. Ursle wollte keinen Besuch, hatte keine Zeit dafür.
Als Kiki ins Spital geht, notabene dasselbe, in welchem ihr Bruder zu Tode kam, weiss sie nicht, was sie erwarten wird. Mit einem Mal wird der Gang schwer. Sie weint schon beim Eintreten. Da ist der schäbige kleine Kiosk neben dem Lift, der Blumenladen. Sie tritt in den Personenlift. Im vierten Stock steigt sie aus. Sie fragt nach dem Zimmer. Ursle liegt in ihrem Bett. Oder zumindest, was von ihr übrig geblieben ist. Die einst gross gewachsene, etwas pummelige Frau ist bis auf die Knochen abgemagert. Ihre Haut ist in dunklem Ocker gefärbt, die Augen senfgelb. Ursles Bauch sieht aus wie damals, als sie mit Sven schwanger war. Nur ist der Bauch nun aufgedunsen von Wasser. Über ihr Gesicht spannen sich feine, rote Spinnweben, ebenso über die Hände. Sie liegt bewusstlos da. Es riecht nach frischer Leber. Kiki geht nach draussen. Sie muss sich übergeben.

Als sie wieder zur Besinnung kommt, sie hat laut geschrien und alle anwesenden Schwestern auf den Platz gebracht, muss sie sich erst setzen. Sie keucht. Die Schwester beruhigt sie, will wissen, wann sie die Mutter zum letzten Mal gesehen hat.
Kiki weint noch mehr. Die Schwester seufzt.
Dann kommt ein Arzt.
Kiki will wissen, wie lange es noch dauert. Wie lange lebt sie noch?
Der Arzt räuspert sich.
„Ihre Mutter ist aus eigenem Verschulden in diesem Zustand…“
Kiki explodiert. Sie schreit den Arzt an.
„Ich weiss schon, seit ich ein Kind bin, dass meine Mutter am Alk sterben wird. Also sagen Sie mir jetzt endlich, was hier los ist!!“
Der Arzt sieht etwas belämmert aus.
„Sie müssen sich beruhigen.“
Kiki atmet tief durch.
„Ich will jetzt sofort wissen, ob sie eine Zirrhose hat oder am Korsakow-Syndrom leidet!!!“
Nun lächelt der Arzt beruhigt.
„Sie sind also vom Fach. Kommen Sie mit, ich erklär Ihnen alles.“
Das tut er dann auch.
Kiki versteht, dass ihre Mutter in den nächsten paar Stunden oder Tagen stirbt. Wenn sie Glück hat, dauert es noch ein paar Wochen. Wenn sie eine Infektion bekommt, gehts schneller. Kiki fühlt sich leer.

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