2.2.

Ursula verbrachte viel Zeit bei ihrer Grossmutter Berta. Diese liebte ihre erste Enkelin von ganzem Herzen. Die kleine Ursula strahlte immer, wenn sie ihre Oma sah. Berta war inzwischen kugelrund geworden, ihr langes Haar hatte sich weiss verfärbt und sie trug eine Brille.

Peter arbeitete noch immer im Toggenburg in einer Spinnerei. Durch den langen Arbeitsweg sahen sich die Eheleute nur selten. Da sein Vater ebenfalls im Toggenburg lebte, drängte er seine Frau immer wieder einmal, doch in dessen Nähe zu ziehen. Priska konnte ihren Schwiegervater und dessen frisch angetraute zweite Frau nicht leiden.

Heinrich sah auf Priskas Familie herab, fand, sein einziger Sohn hätte unter seinem Stand geheiratet. Schliesslich, so seine Sicht der Dinge, war er es gewesen, der damals im Städtchen den Krieg ausgerufen hatte.

Rosa, seine Frau, hatte während des Krieges mit ihrem ersten Mann in Berlin gelebt. Sie wirkte weltmännisch und fand das Toggenburg und seine Bewohner ziemlich spiessig. Rosa fand es auch ziemlich seltsam, dass Peter seine Frau selten sah. Als erfahrene Frau vermutete sie, dass Priska ihren Mann betrügte. Dies erwähnte sie bei jeglichen Treffen mit Peter, sogar wenn Priska daneben sass.

Priska ertrug ihre Stiefschwiegermutter nur schlecht und weinte sich regelmässig bei ihrer Mutter aus. Berta verstand es immer, ihre jüngste Tochter zu trösten.

Zusammen mit Berta besuchte Ursula jeweils die Beichte in der Kirche. Manchmal ging sie auch alleine zum Kapuzinerkloster, da einige der Mönche auch als Lehrer arbeiteten. Staunend lief sie durch die Kapelle. Einer der Mönche sah das kleine Mädchen und begrüsste es freundlich. Es gab ihm die Hand. In jenem Moment schnalzte der Mönch und liess sein künstliches Gebiss klappern. Die kleine Ursula rannte schockiert davon und war während Monaten nicht mehr davon zu überzeugen, mit ins Kloster zu kommen.

Als Ursula neun Jahre alt wurde, beschloss Peter, zurück ins Toggenburg zu ziehen. Er hatte genug von den Unterstellungen seiner Stiefmutter und den Vorwürfen seines Vaters. Priska ging mit, obwohl sie wusste, dass die Trennung von Ursula ihrer Mutter das Herz brechen würde. So zogen sie nach Ebnat-Kappel. Priska kannte keine Menschenseele in jenem Dorf, arbeitete aber weiterhin in Wil. Dies trug nicht unwesentlich dazu bei, dass die Stiefschwiegermutter keinen guten Faden an ihr liess.

2.1.

Die junge Frau trat in den Flur, wo ein grosser Vogelkäfig stand. Die kleinen Vögel flatterten zwitschernd herum. Um den Käfig herum sassen alte Männer und Frauen, die interessiert oder aber in die Leere starrten. Da standen Stöcke und Rollatoren herum. Ein Geruch von getrocknetem Urin und Mottenkugeln hing im Raum.

Sie ging an die frische Luft, wo zwar der Nebel tief hing, sie aber genügend Sauerstoff erhielt. Sie zog die Luft tief ein und füllte ihre Lungen. Sie weinte nicht. Stattdessen schluckte sie die Tränen, die nun brannten wie hochprozentiger, die Kehle herunter.
Nach ein paar Minuten ging sie wieder in das Sterbezimmer zurück.
„Da bin ich wieder. Ich hab eine Pause gebraucht.“
Die Sterbende seufzte, die Augen geschlossen.

„Priska und Peter heirateten an einem wunderschönen Tag im Mai. Ich glaube sogar, es war an Auffahrt. Hedwig und ihr Verlobter, ein junger Geschäftsmann, waren die Trauzeugen. Sie fuhren mit einem Automobil hinauf zur Iddaburg, wo sie sich in der kleinen Kapelle das Ja-Wort gaben. Du erinnerst dich vielleicht an diesen Berg. Der Legende nach hat Iddas Mann sie hinunter gestossen, weil er sie des Ehebruchs bezichtigte. Nach der Zeremonie fuhren alle wieder zurück ins Tal, wo sie zuhause ein kleines Plättli mit Fleisch assen.

Vier Monate später gebar Priska schliesslich eine Tochter, Ursula. Die Geburt des kleinen Mädchen geschah im Elternhaus. Während Priska über Stunden hinweg in den Wehen lag, hielt Peter Wache. Priskas Schreie erschütterten ihn. Er, der niemals kleine Geschwister hatte und ohne Mutter aufwuchs, war sehr erschrocken über die Wucht des Gebärens. Priska litt starke Schmerzen und verlor sehr viel Blut. Als er schliesslich sein Töchterchen in die Hände schliessen durfte, schwor er seiner Frau, dass sie niemals mehr ein solches Martyrium erleiden müsste.

Er hielt Wort. Zwar liebte er seine Frau noch immer, doch nie mehr teilte er mit ihr das Bett. Priska, die sich noch mehr Kinder wünschte, nahm dies erschüttert zur Kenntnis. Ihr Ein und Alles wurde Töchterchen Ursula. Zwar ging Priska tagtäglich zur Arbeit, liess Ursula bei Berta, damit sie ihre kleine Familie ernähren konnte, doch glücklich war sie nicht. Peter wurde immer stiller, zwar hatte er vorher schon nicht oft gesprochen, doch mit Ursulas Geburt wurde er stumm. Keine Zärtlichkeiten mehr, keine gemeinsamen Tanzabende. Peter zog sich völlig in seine eigene kleine Welt zurück. Priska war sehr wohl aufgefallen, dass Peter jeden Abend sein Bier trank, manchmal auch zwei oder drei. Das machte ihr Sorgen. Sie wünschte sich nichts mehr, als endlich eine eigene Wohnung zu besitzen, wo sie Herr und Meisterin über Kochherd und Stube sein könnte. Doch da sie beide nicht viel Geld besassen, kam dies vorerst nicht in Frage.

1.7.

Am frühen Morgen schlich Peter wieder aus dem Haus. Berta, Priskas Mutter, hatte den jungen Mann und seinen nächtlichen Besuch wohl bemerkt. Es verwunderte sie nicht, dass Priska nach einigen Tagen morgens beim Frühstück nicht mehr zulangte. Sie sagte auch nichts, als ihre Tochter nicht mehr in ihre Kleider passte, weil ihr Bäuchlein immer runder wurde. An Ostern schliesslich war es unübersehbar: Priska war schwanger. Berta freute sich, dass sie bald ein Enkelkind haben würde. Sie wagte es aber nicht, ihre Freude gross zu zeigen, da sie sich vor ihrem jähzornigen Schwiegersohn fürchtete.

Der Schwager schäumte vor Wut. Er schimpfte wie ein Rohrspatz und redete von der Schande, die Peter und Priska nun auch auf seine Familie geworfen hatten. Peter sagte dazu nicht viel. Er zündete sich eine Zigarette an und liess den Berserker fluchen.
„Nun müsst ihr zwei heiraten!“ rief er schliesslich. Peter nickte, zog aus seiner Anzugjacke ein kleines Schmuckkästchen und reichte Priskaden Ring. Priska schlug die Hände zusammen und umarmte Peter.
Vier Wochen später, Priska war bereits im fünften Monat, gaben sie sich das Ja-Wort.“

In jenem Moment wurde die junge Frau aus der Erzählung geschreckt, als das Telefon auf dem Nachttischchen der Sterbenden klingelte. Sie atmete tief ein und nahm den Hörer.
„Ja. Ich bin’s. Ja. Es ist soweit. Ich weiss. Nein. Das weiss ich nicht. Tschüss.“
Dann ging sie auf den Gang und weinte. Die Stationsleiterin, eine Serbin von 48 Jahren, mit rot gefärbtem Haar und weichen Händen, nahm die junge Frau am Arm.
„Kommen Sie mit.“
Sie setzten sich ins Stationsbüro.
„Ich kann nicht mehr.“
Die Stationsleiterin lächelte sie an.
„Es ist schwer für Sie. Loslassen ist immer schwer.“
„Ich weiss. Aber ich wusste nicht, dass es so weh tut.“
„Sie müssen sie loslassen. Sie muss jetzt alleine weiter gehen. Sie können ihr das nicht abnehmen.“
„Das weiss ich doch, aber… Die ganzen Verwandten… Ich kann doch nicht am Telefon sagen, dass… während sie daneben liegt.“
Die Pflegende schüttelte sanft den Kopf.
„Haben Sie denn niemanden, der Ihnen beistehen könnte?“
„Meine Oma, aber die leidet schon genug.“
„Vielleicht haben Sie mehr Unterstützung, als Sie vermuten. Sie sollten dies auch zulassen.“
Die junge Frau nickte.
„Wie lange hat sie denn noch?“
„Es wird nicht mehr lange dauern.“

1.6.

„Priska und Peter waren sehr verliebt. Sie wussten einfach, dass sie zusammen gehörten. Sie mochte es, wenn er für sie Musik machte oder wenn sie miteinander tanzen gingen. Peter liebte ihre Zufriedenheit, ihre Lebensfreude. Nach ein paar Wochen verlobten sie sich, überlegten sich, wann sie denn heiraten könnten. Doch daraus wurde nichts. Sie sassen an jenem Abend in der Stube bei den Eltern. Auch der Ehemann der ältesten Schwester, ein gross gewachsener Italiener, Gemüsehändler, war anwesend. Er war ein radebrechender, Respekt einflössender Mann. Als Priska und Peter schüchtern erzählten, sie würden gerne bald heiraten, wurde der Mann laut:
„Was heiraten? Seit wann ist es Sitte, dass die jüngste vor den älteren heiratet? Das könnt ihr beide vergessen. Wer soll denn zu den Eltern schauen? Meine Frau hat dazu keine Zeit, die muss mir helfen. Und Hedwig hat genug zu tun. Nein, Priska. Solange die Eltern da sind, wird nicht geheiratet.“ Priska schossen die Tränen in die Augen. Ihre Mutter streichelte ihr die Hand.
„Er hat ja recht. Der Vater ist ja nicht gesund. Ich brauche deine Hilfe. Ohne dich kann ich das alles nicht.“
Der Sommer war in der Zwischenzeit vergangen, der Herbst auch.

Die junge Frau schenkte sich ein Glas Wasser ein.
„Ich wünschte, du könntest auch einen Schluck trinken.“
Die Sterbende gab keine Antwort.

Der Winter nahte. Alles war verschneit und vereist. Peter spielte wie immer am Wochenende Tanzmusik. An jenem Abend hatte er nicht nur wie ein Wahnsinniger Boogie und Twist gespielt, nein, er hatte auch noch mehr als einen Schluck Bier getrunken. Als er den steilen Weg zur elterlichen Mühle hinunter laufen wollte, die Stimmen der anderen ertönten am Ende der Strasse, rutschte er aus. Reflexartig hielt er seinen Saxofonkoffer in die Höhe, damit seinem Instrument nur ja nichts passierte. Der Italiener hatte ihn schlittern sehen und rief ihm zu: „Hey, wir sind hier oben. Rutsch nicht an uns vorbei.“

Priska war unglücklich. Nichts hatte sie sich mehr gewünscht, als in Peters Armen zu versinken und mehr zu empfangen als nur einen verschämten Kuss auf die Backe, während die Schwestern und der Schwager daneben standen. Auch Peter war nicht zufrieden. Er hatte wenig Erfahrung mit Frauen, doch mit Priska schien ihm alles so einfach. Sie war fröhlich und aufgestellt und wenn sie ihn ansah, spürte er, wie sehr sie ihm vertraute und wie sehr sie ihn liebte.
Die ganze Familie hatte gemeinsam Silvester gefeiert. Der Schwager hatte italienischen Wein mitgebracht, es hatte Früchte und Käse gegeben und sie alle hatten soviel gegessen wie schon lange nicht mehr. Als alle schlafen gegangen waren, brachte Priska Peter bis vor die Türe. Er küsste sie.
„Weisst du, es gibt schon eine Möglichkeit, wie wir beide bald heiraten können.“
Priska blickte ihn verwundert an.
„Ich könnte mit dir in dein Zimmer hoch kommen.“
Sie wurde knallrot.
„Ja, aber das ist doch verboten.“
„Ich weiss, aber es ist die einzige Möglichkeit.“
Priska kicherte verlegen. Sie legte den Finger auf den Mund. Dann schlichen sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer.

1.5.

Die junge Frau setzte sich aufrecht auf den Stuhl hin.
„An diese Geschichte erinnerst du dich doch noch gut, oder? Magst du weiterhören? Noch bin ich nicht fertig.“

In jenem Moment klopfte es und die Schwester trat ein. Sie redete mit der Frau im Bett und hörte ihre Brust ab. Das Kocheln und Keuchen klang unverändert. Die Schwester blickte die junge Frau traurig an.
„Wir machen sie kurz frisch, ja?“ Die junge Frau nickte und drehte sich weg.Eine zweite Schwester trat nun hinzu. Gemeinsam drehten sie die Sterbende um, wechselten ihr die Einlagen.

Für einen Moment blickte die Frau im Bett die junge Frau aus grossen dunklen Augen an. Ihre Augäpfel waren senfgelb gefärbt, ebenso die Haut ihres ganzen Körpers. Die junge Frau nahm sich ein Taschentuch aus dem Hosensack und schniefte, warf einen Blick auf ihr Handy.

Seufzend tippte sie darauf herum und steckte es schliesslich wieder ein.
Die Schwester berührte die junge Frau an der Schulter.
„Haben Sie keinen Hunger?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Sie sollten ihr und sich eine Pause gönnen.“
Sie nickte.
„Wir haben bald genügend Zeit, uns auszuruhen, nicht wahr?“
Die Schwester nickte ebenfalls und ging wieder aus dem Zimmer.

„Weisst du was, ich erzähle einfach weiter, ja?“
Die Frau im Bett gab keine Antwort.

1.4.

Die nächsten Tage ging Priska durch die Hölle. Keine Spur von ihrem Fahrrad, kein Ton von Herrn Kaiser. Ging ja auch nicht, schliesslich wusste er ja nicht einmal, wo sie wohnte. Sie betete inständig, dass ihr Vater, obwohl bettlägerig, nicht bemerkte, dass ihr Fahrrad verschwunden war.

Eine Woche später war sie der Verzweiflung nahe. Noch immer keine Nachricht von Herrn Kaiser, der doch das Fahrrad zurückbringen wollte. Ihr Vater zitierte sie in die Stube. Schwer atmend sass er vor ihr und stellte sie zur Rede.
„Und? Hast du mir was zu sagen, Priska?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wo ist dein neues Fahrrad?“
Priska räusperte sich.
„Das ist weg.“
„Wie bitte das denn?“
„Ich habe es einem jungen Herrn nach dem Tanz geliehen. Er wollte es zurückbringen.“
Das Gesicht ihres Vaters verfärbte sich augenblicklich rot.
„Du hast einfach einem Wildfremden dein Fahrrad gegeben? Wo wohnt denn dieser Saukerl?“
„Das weiss ich nicht.“
Ihr Vater schnappte nach Luft.
„Wie bitte??“
Priska war hundeelend zumute.
„Ich weiss nur, dass er Tanzmusik macht und Kaiser heisst.“
Der Vater wurde nur noch zorniger.
„Ich glaube das nicht: du gibst irgendeinem dahergelaufenen Mann dein Fahrrad? Wie dumm bist du eigentlich? Der wollte dich beklauen!!“
Priska heulte. Der Vater schickte sie in ihr Zimmer. Auf dem Weg dahin lief sie an ihrer älteren Schwester vorbei, die sie anzischte: „Man hat dich gesehen, wie du ihn hemmungslos geküsst hast.“

Eine Stunde später klopfte es an der Türe. Die Mutter öffnete und Herr Kaiser gab ihr einen grossen Blumenstrauss. Berta stand völlig überrascht und unfähig eines Wortes da. Sie hiess ihn einzutreten und führte ihn zu Johann.
Als der junge Mann den Grund seines Besuchs angab, lächelte Johann zum ersten Mal seit langem. Sie setzten sich hin und Johann schenkte ihm ein Glas Schnaps ein.
Dann wurde Priska geholt. Auch sie setzte sich hin. Es war offensichtlich, Peter war in Priska verliebt. Er entschuldigte sich in kurzen Sätzen dafür, dass er ihr das Fahrrad nicht sofort zurück gebracht hatte. Er erklärte dies mit seiner momentanen starken Einbindung ins Geschäft. Er sei Spinnerei-Angestellter und das habe es ihm unmöglich gemacht, unter der Woche zurück nach Wil zu fahren. Priska lächelte, Peter lächelte, die Eltern schwiegen.“

1.3.

Die Musik verlangte ihren Tribut. Priska wurde von einem leidenschaftlichen Tänzer durch die Luft gewirbelt. Sie jauchzte vor Glück. Zwei Stunden später sass sie auf einem Stuhl vor einer Tasse Milchkaffee, den sie über alles liebte. Sie war müde, hatte getanzt wie eine Wilde. Ihr Blick fiel auf die Tanzmusik. Einer der Musiker, ein blonder, schlanker junger Mann mit leuchtenden blauen Augen fiel ihr sofort auf. Er spielte Saxofon und sah aus, als lebte er nur für und mit seinem Instrument in der Musik. Er sah etwa so aus, wie sie sich Teddy Stauffer vorstellte. Sie errötete leicht, als auch er sie anblickte und mit seinem Blick abmass. Als die Musiker eine Pause machten, trat er auf sie zu. Er prostete ihr mit einem Glas Bier zu und setzte sich hin. Die Pause verging wie im Fluge. Er sprach nicht viel, doch seine leuchtenden Augen, sein Lächeln mit dem ernsten, schmalen Mund, brachte sie zum Strahlen. Noch nie hatte sie einen so hübschen Mann gesehen.

Kaiser“, stellte er sich vor.

Himmel.“

Nachts um drei Uhr schliesslich hörten die Musiker auf zu spielen. Priska sass noch immer da. Sie verspürte kein bisschen Müdigkeit. Der junge Mann setzte sich zu ihr hin und sie redeten noch ein bisschen, bis der Wirt sie aufforderte, das Lokal zu verlassen. Draussen vor der Türe, es war eine sternenklare Frühlingsnacht, verabschiedeten sie sich voneinander. Er gab ihr die Hand und lächelte sie schüchtern an. Dann ging er langsam mit dem Saxofonkoffer unter dem Arm fort. Er war gerade um die Ecke gebogen, Priska wollte sich schon auf ihr Fahrrad setzen, als er wieder zurückkehrte. Kalte und warme Schauer durchliefen ihren Körper. Er räusperte sich verlegen.

Fährt kein Zug mehr. Ich muss wohl zu Fuss gehen.“

Priska lächelte.

Nehmen Sie halt mein Fahrrad.“

Er grinste.

Sicher?“

Ja.“

Ich brings auch zurück.“

Priska nickte. Er beugte sich zu ihr hin und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Dann drehte er sich um und ging mit dem Fahrrad davon.

Auf Wiedersehen, Herr Kaiser.“

1.2.

Priska wurde in der Zwischenzeit eine erwachsene, stattliche Frau. Wie ihre Schwestern arbeitete auch sie in einer Fabrik, um ihrer Familie helfen zu können. Priska war ein lebensfroher Mensch. Sie liebte die Musik und das Tanzen. Doch all das war nicht ganz leicht: ihr Vater, einst ein Berg von einem Mann, war nach einem Unfall sehr krank geworden. Immer wieder wurde sein Körper von schweren Krämpfen durchgeschüttelt. Bei der kleinsten Kleinigkeit wurde er wütend wie ein Berserker. Priska ging selten tanzen, viel lieber half sie ihrer Mutter bei der Pflege ihres Vaters und im Haushalt. Sie wohnten in einem uralten Haus am Rande der Stadt mit Blick auf einen grossen verträumten Weiher. Oft sass Priska am Ufer des Gewässers und liess ihre Füsse ins kalte Nass hinein hängen.

An jenem Samstagabend nahm Berta ihre Tochter bei der Hand und sagte: „Du bist noch so jung. Geh tanzen.“ Dann steckte sie ihr ein Geldstück in die Tasche.

Priska zog ihr schönstes Kleid an und machte sich bereit, auf den Tanz zu gehen. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, hängte ihre Tasche daran und schob es vor sich hin. Obwohl die Familie nicht viel Geld besass, hatte der Vater seiner jüngsten Tochter ein Fahrrad gekauft, damit sie den langen Weg bis zur Fabrik nicht mehr zu Fuss gehen musste.

Vor dem Restaurant Bären hielt sie an. Bis draussen auf die Gasse erklang die Tanzmusik. Priska wippte mit dem Fuss. Sie freute sich aufs Tanzen.

Sie war nicht die einzige, die dem Ruf der Musik gefolgt war. Der Krieg war seit fünf Jahren vorbei. Die Menschen schäumten vor Lebensfreude fast über. Einige der jungen Männer hatten noch an der Grenze gewacht, längere Zeit nicht in ihren Berufen gearbeitet. Trotz der Sicherheit ihres friedlichen, neutralen Landes, waren diese Männer auf seltsame Art entwurzelt. Der Krieg hatte ihnen ein paar Jahre ihres jungen Lebens einfach so gestohlen.

1.1.

Die junge Frau sitzt wie jeden Tag dieser Woche, wir haben Mittwoch, am Bett der Sterbenden. Sie seufzt schwer, schlägt die Beine übereinander, als die Schwester eintritt und sich verlegen räuspert. Sie tritt zu der Patientin hin und misst ihr den Puls. Die Sterbende atmet rasselnd. Die Schwester blickt die junge Frau fragend an.

Wollen Sie nicht einmal eine Stunde Pause machen?“

Die andere schüttelt den Kopf.

Nein.“

Ein bisschen frische Luft würde Ihnen gut tun.“

Die Schwester zuckt die Schultern und geht wieder raus.

Die junge Frau setzt sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett der Sterbenden.

Noch kannst du nicht gehen, nicht wahr?“

Ohne eine Antwort abzuwarten spricht sie zu der Frau im Bett.

Möchtest du eine Geschichte hören, damit die Zeit schneller vorbei geht?“

Die Sterbende atmet schwer, die Augen geschlossen. Sie antwortet nicht, scheint verborgen hinter einem Schleier des Vergessens.

Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte keine Eltern mehr. Sein Name war Johann. Er wuchs auf einem Bauernhof am Fusse des Rickens auf. Seine Zieheltern waren gute Menschen, die ihn anständig und wie ihren eigenen Sohn behandelten. Die Zeiten waren hart. Die Menschen auf dem Lande lebten in grosser Armut. Noch wussten sie nicht, dass zwei Kriege die Welt um sie herum in Schutt und Asche legen sollten. Der kleine Junge half auf dem Hof seiner Zieheltern mit. Als er grösser wurde, schickten sie ihn in die Lehre. Er wurde Elektriker. Er zog hinaus in die Welt und verdiente Geld. Eines Tages lernte er Berta kennen, in die er sich verliebte. Sie heirateten und bekamen fünf Kinder: Berta, Hedwig, Priska, Hans und Josef. Sie liebten ihre Kinder von ganzem Herzen, doch die Zeiten blieben hart und sie hatten fast nichts zum Leben.

Eines Tages wurde ihre jüngste Tochter Priska sehr krank. Sie bekam hohes Fieber, begann sich die Haare auszureissen und konnte nicht mehr sprechen. Der Priester kam vorbei, um ihr die letzte Ölung zu spenden. Doch wie durch ein Wunder starb Priska nicht. Nach vielen Wochen wurde das kleine Mädchen wieder gesund. Johann und Berta dankten dem lieben Gott von ganzem Herzen.“

Die junge Frau beugte sich zu der Frau im Bett nieder. Deren Zustand war unverändert. Ihr Atmen klang weiterhin tief und rasselnd.

Hat dir diese Geschichte gefallen? Ich erzähle dir gerne noch eine weitere, denn ich habe genügend Zeit.“ Die Frau im Bett gab keine Antwort.