1.1.

Die junge Frau sitzt wie jeden Tag dieser Woche, wir haben Mittwoch, am Bett der Sterbenden. Sie seufzt schwer, schlägt die Beine übereinander, als die Schwester eintritt und sich verlegen räuspert. Sie tritt zu der Patientin hin und misst ihr den Puls. Die Sterbende atmet rasselnd. Die Schwester blickt die junge Frau fragend an.

Wollen Sie nicht einmal eine Stunde Pause machen?“

Die andere schüttelt den Kopf.

Nein.“

Ein bisschen frische Luft würde Ihnen gut tun.“

Die Schwester zuckt die Schultern und geht wieder raus.

Die junge Frau setzt sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett der Sterbenden.

Noch kannst du nicht gehen, nicht wahr?“

Ohne eine Antwort abzuwarten spricht sie zu der Frau im Bett.

Möchtest du eine Geschichte hören, damit die Zeit schneller vorbei geht?“

Die Sterbende atmet schwer, die Augen geschlossen. Sie antwortet nicht, scheint verborgen hinter einem Schleier des Vergessens.

Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte keine Eltern mehr. Sein Name war Johann. Er wuchs auf einem Bauernhof am Fusse des Rickens auf. Seine Zieheltern waren gute Menschen, die ihn anständig und wie ihren eigenen Sohn behandelten. Die Zeiten waren hart. Die Menschen auf dem Lande lebten in grosser Armut. Noch wussten sie nicht, dass zwei Kriege die Welt um sie herum in Schutt und Asche legen sollten. Der kleine Junge half auf dem Hof seiner Zieheltern mit. Als er grösser wurde, schickten sie ihn in die Lehre. Er wurde Elektriker. Er zog hinaus in die Welt und verdiente Geld. Eines Tages lernte er Berta kennen, in die er sich verliebte. Sie heirateten und bekamen fünf Kinder: Berta, Hedwig, Priska, Hans und Josef. Sie liebten ihre Kinder von ganzem Herzen, doch die Zeiten blieben hart und sie hatten fast nichts zum Leben.

Eines Tages wurde ihre jüngste Tochter Priska sehr krank. Sie bekam hohes Fieber, begann sich die Haare auszureissen und konnte nicht mehr sprechen. Der Priester kam vorbei, um ihr die letzte Ölung zu spenden. Doch wie durch ein Wunder starb Priska nicht. Nach vielen Wochen wurde das kleine Mädchen wieder gesund. Johann und Berta dankten dem lieben Gott von ganzem Herzen.“

Die junge Frau beugte sich zu der Frau im Bett nieder. Deren Zustand war unverändert. Ihr Atmen klang weiterhin tief und rasselnd.

Hat dir diese Geschichte gefallen? Ich erzähle dir gerne noch eine weitere, denn ich habe genügend Zeit.“ Die Frau im Bett gab keine Antwort.

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