8.4.

Am selben Abend öffnet Ursle ihre Augen. Sie erblickt Kiki. Ursle lallt.
Ihr Gehirn funktioniert nicht mehr richtig. Durch die defekte Leber, die keine Giftstoffe mehr filtert, wird ihr Hirn langsam vergiftet.
Kiki versteht.
Es gibt keine Hoffnung mehr.
„Was machst du hier, Kiki?“ fragt die Mutter.
„Ich bin hier.“
„Dass ausgerechnet du am Ende hier bist, hätte ich nie gedacht.“
Dann schliesst Ursle wieder die Augen.

Die nächsten Tage sind geprägt von Schlaflosigkeit. Kiki weiss, dass Ursle jederzeit gehen kann. Sie hat ihre Telefonnummer bei den Schwestern hinterlegt.
Mitten in der Nacht wacht sie auf, Schweiss gebadet und gepeinigt von der Angst, die Mutter alleine gelassen zu haben.

Doch nach einer Woche zeichnet sich ab, dass Ursle nicht stirbt. Jetzt kommt die Dame vom Sozialamt, wir erinnern uns, Ursle kann nicht mehr arbeiten, kriegt Sozialhilfe. Die Dame macht Druck, sanft zwar nur, aber immerhin. Kiki soll innerhalb der nächsten Woche die Wohnung räumen.

Kiki mochte Ursles Wohnung nie besonders. Aber sie wusste, wie viel sie ihr bedeutet. Es ist ihr kleines Reich. Eine grosse 1-Zimmer-Wohnung, mit Waschmaschine, Dusche und grossem Bett mit Blick auf die Dächer der Stadt.
Als Kiki die Wohnung betritt, verschlägt es ihr fast den Atem. Es riecht. Besser gesagt: es stinkt. Die Wohnung riecht nach abgestandenem Rauch und Tod. Auf dem Herd steht noch immer eine Pfanne Gemüsesuppe. Verdorben. Verschimmelt. Der Boden ist schmutzig. Was früher einmal ein Teppich war, ist kaum zu erkennen. Überall Zigarettenasche und blutige Papiertaschentücher. Die Bettwäsche blutverschmiert von nicht endenwollenden Blutungen.
Kiki kämpft erneut gegen das Erbrechen. Und das nicht zum letzten Mal.
Sie packt Ursles Kleider, Kreuzworträtsel, Zigi-Packungen, Fotos ein.

Während Ursle im Spital liegt, telefoniert Kiki mit Ämtern, beruhigt Freund Hermann, holt Post, verschickt Post und kämpft immer wieder mit den Tränen.
Die Wohnung stellt sich als Sisyphos-Arbeit heraus. Ganz alleine soll sie alles räumen. Sie trägt säckeweise Müll heraus, verpackt Geschirr und Kleider, sortiert persönliche Gegenstände. Im Spital liegt Ursle, die jeden Tag darum bittet, nach Hause gehen zu dürfen. Doch da sie nicht einmal mehr selber laufen kann, ist dieser Wunsch in weite Ferne gerückt.

Zwischen Arbeit und Spitalbesuch räumt Kiki die Wohnung. Mehr als einmal liegt sie weinend auf dem Boden. Überall Schmutz und der Geruch der Einsamkeit.

Nach zwei Wochen im Spital soll Ursle verlegt werden. Man brauche das Bett, heisst es. Psychiatrie ist die nächste Station. Kiki versucht, sich dagegen zu wehren, ohne Chance. Ursle verbringt zwei Tage in einer Klinik, wo sie eine Gruppentherapie besucht. Kiki wird vom Stationsarzt zur Rede gestellt und nach ihrem eigenen Alkoholkonsum befragt. Sie kommt sich etwas doof vor.

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