Nach zwei Tagen erkrankt Ursle an einer Infektion und muss wieder ins Spital gebracht werden. Kiki fragt sich, wohin das alles führen soll. Ursle hat Angst. Sie hat immer wieder Mühe, sich zu orientieren. Nach ein paar Tagen, mittlerweile ist August, wird Kiki von einem Arzt angerufen, der ihr mitteilt, dass er Ursle entlassen wird. Sie wünsche sich, daheim zu sterben und Kiki soll alles in die Wege leiten. Kiki bekommt einen Nervenzusammenbruch. Sie weiss genau, dass ihre Mutter nicht mehr für sich sorgen kann. Innerhalb weniger Stunden würde sie sterben. Kiki fürchtet nichts mehr, als ihre Mutter tot in der Wohnung vorzufinden. Sie holt sich Hilfe bei ihrer Therapeutin, die bei der Stadt eine Gefährdungsmeldung einreicht. Sollte der Arzt Ursle trotzdem entlassen, würde das Spital für alles gerade stehen müssen. Dann läuft alles kreuz und quer. Kiki wird von der Mitarbeiterin des Sozialamts angerufen und zur Rede gestellt. Im Spital muss sie sich von den Ärzten Vorwürfe gefallen lassen. Ursle ist bei diesem Gespräch mit dabei, kann sich aber nicht mehr klar äussern.
Der Arzt schlägt Ursle schliesslich vor, ins Pflegeheim zu gehen. Nach Wil.
„Wil“, denkt Kiki, „Seltsam.“
Mittlerweile ist es Nachmittag geworden. Ursle atmet noch. Zwar selten, aber sie atmet. Sie lebt. Ihr ganzer Körper wirkt plötzlich wie ein Embryo. Kiki fühlt sich so unheimlich klein. Einsam. Der letzte Weg.
Priska sitzt auf der anderen Seite des Betts. Würdevoll. Geduldig.
Kiki streichelt die Hand ihrer Mutter.
„Du darfst gehen, Mami.“
Kiki weint wieder.
„Du lässt mich nicht alleine. Du warst für mich noch so lange da. Bitte lass los.“
Immer wieder wartet Kiki darauf, dass die Mutter die Augen öffnet und etwas sagt. Dann fängt sie an, weiter zu sprechen.
„Im Pflegeheim fühlte sich Ursle sofort wohl. Niemand stört sich an ihr. Keinen interessiert ihre Diagnose, ihre Geschichte, ihre Abhängigkeit. Die Pflegenden kümmern sich um ihr Wohl.
Kiki kommt fast täglich vorbei, bringt sogar ihre Katze mit, weil sich Ursle das gewünscht und es erlaubt ist.
Auf Druck des Sozialamts muss Kiki von ihrer Mutter die Unterschrift für die Kündigung der Wohnung einholen. Sie weiss genau, dass Ursle niemals ihre Wohnung kündigen würde. Sie tut es in einem Moment, in dem Ursle nicht bei Sinnen ist. Ihre Mutter fragt sie noch, was sie nachher tun soll. Kiki zuckt die Schultern. Die Mutter sagt:
„Nicht wahr, nachher kriege ich eine schöne, helle Wohnung mit Lift und Geschirrwaschmaschine.“
Kiki nickt.
Einen Tag später begreift Ursle, dass sie ihre Wohnung aufgegeben hat. Sie schreit Kiki an.
„Ich will dich in diesem Leben nie wieder sehen! Hau ab!“
Kiki geht.
Kiki bricht auf dem Flur zusammen. Die Stationsleiterin nimmt sie mit in ihr Büro und tröstet sie. Sie ermutigt sie, zurück zu Ursle zu gehen und zu sagen, dass sie nicht weg gehen wird.
„Schauen Sie in die Augen Ihrer Mutter. Sie werden darin nur Gutes entdecken.“
Kiki macht das. Ihre Mutter sitzt auf dem Bett und putzt sich die Nase. Wieder einmal Nasenbluten.
„Willste ‘nen Tampon?“
Ursle blickt Kiki überrascht an. Dann lacht sie. Sie lacht so laut, wie Kiki sie seit Jahren nicht mehr lachen gehört hat.
Sie umarmen sich. Die Mutter sagt:
„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich liebe, Kiki. Bitte verlass mich nicht.“
Das letzte Telefonat verläuft emotional. Kiki ruft sie auf dem Heimweg an. Ursle erzählt vom Besuch ihrer besten Freundin, die ihr ein jodelndes Murmeltier vorbei gebracht hat. Am Ende sagt Ursle plötzlich sehr ruhig:
„Ich wollte dir danken, für alles, was du für mich getan hast, Kiki. Ich habe dich sehr, sehr lieb.“
Das ist das letzte Mal, dass Kiki die Stimme ihrer Mutter hört. Sie ahnt, was nun kommen wird.“
Und nun sitzen sie da. Mutter und Tochter der Sterbenden.
Schacher-Seppli läuft auf der Musikwelle. Es ist Punkt 16.15 Uhr.
Die Schwester treten ein und wollen Ursle umlagern. In diesem Moment, die Schwester haben ihre Schulter berührt, macht Ursle einen letzten, tiefen Atemzug.
Ihre Augen blicken starr ins Leere.
Kiki erkennt eine letzte Träne.
Dann ist alles still.
Die Schwestern halten inne. Die Ältere nimmt ihren Puls. Ruhe.
Priska und Kiki sitzen noch immer da. Der Pflegedienstleiter kommt. Stellt den Tod fest. Kondoliert. Priska und Kiki umarmen sich. Sie sprechen kein Wort.
Vielleicht eine Stunde. Vielleicht auch nur ein paar Minuten. Ursles Körper liegt im Bett.
Ursle scheint zu grinsen. Noch ist ihr Kopf warm. Ihre Haut, senfgelb, die Lippen geschlossen. Keine Spur vom Todeskampf. Die Hände, noch maniküriert, der Lack von Chanel, gekreuzt. Blumen.
Kiki öffnet das Fenster.
„Ich glaube, sie braucht jetzt erst mal eine Zigarette.“
Priska blickt Kiki an. Dann lachen sie, um sich gleich weinend in die Arme zu fallen. Draussen scheint die Sonne. Es ist ein guter Tag, um zu sterben. Draussen fliegt eine Krähe vorbei.
Was bleibt, ist die Gewissheit. Nicht die Furcht vor dem Tod oder dem Sterben, sondern der Respekt vor dem Leben und das Wissen, dass alles im Leben seinen Sinn findet.
Ende