6.3.

“Ursle schlägt Kiki weniger, was wohl auch daran liegt, dass das Mädchen mittlerweile gleich gross ist wie sie. Einmal noch gibt sie ihr eine Ohrfeige, weil sie frech war. Kiki holt aus und schlägt zurück. Ursle weint.“

In jenem Moment klopft es an der Türe. Eine alte Frau im grünen Mantel, graues Haar in Dauerwelle, tritt ein. Die junge Frau fällt ihr um den Hals und weint.
Alte Hände streichen über das Haar.
„Hallo Kiki.“
„Wie gut, dass du da bist, Oma Priska.“
Priska tritt an das Bett ihrer Tochter und seufzt. Liebevoll streichelt sie über die Hände der Sterbenden.
„Jetzt ist es also soweit. Und ich bin noch nicht zu spät. Mein Kind. Mein Urseli.“
Benommen setzen sich die beiden ans Bett.
„Tante Hedj lässt ausrichten, dass sie an euch beide denkt.“
Kiki nickt.
„Sie hat auch schon angerufen.“
Die Sterbende stöhnt. Ihr Atem setzt immer mal wieder aus.
„Sie geht noch nicht.“
Priska blickt ihre Enkelin mitleidig an.
„Du warst seit gestern morgen da?“
Kiki nickt.
„Ich hab nicht geschlafen.“
„Unser Urseli darf bald einschlafen. Sie muss nicht hier bleiben.“
Sie streichelt ihrer Tochter über das Gesicht.
„Hat sich Desirée noch immer nicht gemeldet?“
Kiki schüttelt den Kopf.
„Nein. Keine Antwort. Ich glaube nicht, dass sie kommt.“
„Was ist denn bloss mit diesem Mädchen los?“

„Als Kiki sechzehn Jahre alt ist, zieht sie aus. Sie reist in die Romandie, wo sie als Au-Pair arbeiten will. Sie findet eine Stelle bei einer gutbürgerlichen Familie. Eines Abends lässt Kiki eine teure Glasschüssel fallen. Sie stürzt sich auf den Boden und schützt ihren Kopf. Madame findet das seltsam und bittet den Teenager wieder aufzustehen. Doch Kiki hat Angst. Als sie ihrer Madame erzählt, dass sie es sich gewohnt ist, geschlagen zu werden, erschrickt diese. Sie schickt Kiki zu einer Psychologin. Kiki schafft es, auf Französisch über ihre Familie Auskunft zu geben, damit sie Hilfe bekommt.

Yogi zerreisst es fast, als seine Tochter auszieht. Ursle und er streiten sich täglich. Kiki fehlt als Blitzableiter. Desirée bleibt zwar von den Streitereien unbehelligt, doch auch sie leidet. Ursles Abstürze häufen sich. An einem Abend ist sie mit einer guten Freundin unterwegs. Stark angetrunken kommt sie zurück nach Hause. Im Schlafzimmer trifft sie auf den schlafenden Yogi. Sie schlägt ihn. Er flüchtet sich in die Küche. Ursle greift nach einem Messer. Droht. Sie will ihn umbringen. Sie hasst ihn. Schreit ihn an, tritt ihn in die Hoden. Er erlebt Todesängste.
Desirée, aufgeweckt von Schreien tritt in die Küche, sieht die Eltern. Sie erstarrt. Der Vater ist ganz bleich, während die Mutter rot vor Wut leuchtet. Entschlossen geht Desirée zum Vater, stellt sich vor ihn hin und sagt:
„Du willst ihn töten? Dann musst du mich auch umbringen. So will ich auch nicht mehr leben.“
Ursle wankt, bricht zusammen.
Yogi holt nicht die Polizei. Wie soll er auch erklären, dass sie ihn terrorisiert, geschlagen hat, ihm Angst macht? Keinem Mann passiert das. Er schweigt. Doch die Nächte verbringt er nicht mehr zuhause. Er schläft von da an bei seiner Freundin Barbara, die ebenfalls aus dem ehelichen Haushalt ausgezogen ist.

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