6.2.

Ein paar Monate später, sie sitzt im Religionsunterricht und hört Lehrer Grau zu. Sie denkt über Gott nach. Sie mochte Gott eigentlich immer sehr gut leiden, obwohl er ihren Bruder weggenommen hatte. Sie liebte die Geschichten über Jesus und all seine Wunder. Ihr fiel auf, dass Lehrer Grau immer besonders freundlich redete, wenn es sich um Gott oder Aufklärung handelte.
Überhaupt, Aufklärung. Kiki wusste natürlich Bescheid über die Tatsachen des Lebens. Schliesslich züchtete ihr Vater Kaninchen und Hühner. Er hatte ihr alles erklärt. Ihr schien alles logisch.

Sie sass da und hörte dem Lehrer und seiner süsslichen Stimme zu. Sie fand das widerlich.
Nach der Stunde musste sie die Wandtafel putzen. Grau stand daneben und schaute ihr zu. Er beobachtete sie genau. Sie bekam Angst. Sie erinnerte sich an seine scheusslichen Bundfaltenhosen. Sie hasste sie und seine seltsamen gelben Hemden. Sein Grinsen.
Er stand neben ihr und beobachtete sie, wie sie putzte. Als sie damit fertig war und gehen wollte, sie sollte in die Nähschule gehen, hielt er sie zurück.

„Ich möchte, dass du noch etwas da bleibst, Kiki.“
Kiki erstarrte. Bitte nicht.
„Ich möchte dich etwas fragen, Kiki.“
Sie nickte unmerklich.
„Warum hast du die Büroklammer herunter geschmissen?“
„Büroklammer? Welche Büroklammer?“
Er zeigte auf eine blau glänzende Büroklammer am Boden.
„Diese hier.“
Kiki griff sich an den Hals.
„Heb sie auf.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Heb sie auf, Kiki.“ Seine Stimme klang schneidend.
Sie ging in die Knie und hob sie auf.
„Ich weiss genau, warum du das getan hast, Kiki.“

Kiki spürte den Kloss von Tränen in ihrem Hals. Sie schluckte sie herunter. Sie durfte nicht weinen. Sie musste ihn anschauen oder noch besser neben ihm vorbei und ruhig bleiben. Grau war wütend.

„Du wolltest, dass ich mich vor dir erniedrige. Dass ich vor dir in die Knie gehe. Du hältst alle Menschen um dich herum für minderwertig. Auch deine Eltern. Darum tust du das. Du bist ein sehr schlechtes Mädchen.“
Kiki hörte seine metallische Stimme. Sie wollte die Augen schliessen. Aber sie wusste, sie musste ihn anschauen. Denn sonst hätte er gewonnen. Sie durfte nicht weinen. Sie musste einfach so dastehen.

Grau redete weiter.
Kiki schloss innerlich die Augen. Sie wusste, dass etwas schreckliches passieren würde. Sie spürte, wie ihre Angst etwas anderem wich. Enttäuschung. Trauer. Schock. Sie sah, wie vor ihrem inneren Auge all ihre Lieben vorbei zogen. Ihr Bruder. Ihre Mutter. Ihr Vater. Ihre Schwester. Ihre Grosseltern. Sie standen an ihrem Grab und weinten. Das wollte sie nicht.
Sie fühlte sich, als ob sie in ihrem schwarzen dumpfen See um ihr Leben schwamm. Sie kämpfte.

Eine Stunde später geht sie nach unten in die Nähschule. Sie weint. Sie ist verstört. Doch kein Mensch fragt, was mit ihr passiert ist.

Dann geschieht etwas Seltsames. Kiki, die mehr denn je Zeit mit Schreiben verbringt, erschafft sich auf dem Papier eine Welt, die gut ist. Da sind Old Shatterhand und Winnetou, Old Surehand und Apanatschi, die sie bewachen und ihr helfen, dass ihr nichts Schlimmes passiert. Zwar hört sie jetzt in der Schule nicht mehr so gut zu, doch sie hat weniger Angst als vorher. Sogar Ursles Schläge machen ihr weniger aus. Schliesslich achten ihre Helden darauf, dass ihr nichts Schlimmes passiert. Wann immer Ursle ausrastet, sie schlägt oder schlagen will, wird Kiki von unsichtbaren Händen geschützt. Ihr passiert nichts. Die Angst ist zwar noch da, doch sie zerfrisst ihr Herz nicht.

Sie wird zwölf Jahre alt. In der Turnstunde hat sie zum ersten Mal ihre Periode. Vor Schreck fängt sie an zu weinen. Eines der anderen Mädchen erzählt dies Ursle, die sofort kommt. Lehrer Grau will wissen, was das Theater soll. Ursle meint nur „sie hat jetzt ihr Züüg“. Von jenem Tag an lässt Grau Kiki in Ruhe.

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