Kiki wird elf.
Sie ist nach wie vor eine schlechte Sportlerin. Sie rennt zwar gerne, kann aber die Beine nicht mehr spreizen und ihr Gleichgewichtsgefühl ist schlecht.
Sie besucht die fünfte Klasse bei Lehrer Grau.
Der ist bekannt und beliebt dafür, dass er sehr streng ist. Das lässt er Kiki spüren. Er verdächtigt sie, sich absichtlich „fallen zu lassen“, wenn es um Sport geht.
Kiki findet es seltsam, dass er den Mädchen in der Garderobe beim Füsse waschen im Trog zusehen will. Manchmal, wenn sie unter der Dusche stehen, kommt er auch einfach rein, um zu kontrollieren, ob sich auch wirklich alle sauber waschen. Kiki spürt, dass es nicht richtig ist. Aber sie weiss auch, dass Lehrer Grau sehr respektiert wird. Kein Kind kann es wagen, einem Erwachsenen seltsames Tun zu unterstellen.
Mehr als einmal kriegt sie Strafen, weil sie im Geräteturnen so schlecht ist. Er zwingt sie, auf dem Reck zu balancieren, was grauenvoll endet. Kiki bricht sich fast das Genick. Da ihre Knie blau geschwollen sind, bringt Yogi sie zum Arzt. Dieser regt sich auf, weil Kiki überhaupt herumgeturnt ist. Er verspricht ihr, mit dem Lehrer zu sprechen. Schliesslich ist Lehrer Grau sein langjähriger Nachbar.
Jahre später wird Kiki sich an diesen Untersuch erinnern, denn sie ist überzeugt, dass er die folgenden Ereignisse erst ausgelöst hat:
Der Arzt, seines Zeichens Nachbar von Lehrer Grau und Mitglied der Kirchenbehörde, hat also tatsächlich mit ihm gesprochen. Am nächsten Morgen rastet Grau im Unterricht total aus. Er beschimpft Kiki vor der ganzen Klasse als Lügnerin. Er bittet sie an die Tafel, wo sie die Melodie eines Liedes aufschreiben soll. Wohlwissend, dass Kiki kein Instrument spielt, gibt er ihr eine Aufgabe, der sie unmöglich gewachsen ist. Vor allen Kindern schlägt er sie auf den Hintern. Die Beschimpfungen sind unter der Gürtellinie. Kiki kriegt Angst. Sie ahnt, dass sie keine Fehler mehr machen darf. Alles wird geahndet. Er beschimpft vor allen Kindern ihre Eltern. Kiki traut sich nicht, ihrem Vater das zu sagen, weil sie fürchtet, dass dann was Schlimmes passiert und sie sich ja innerlich die Schuld an dem Desaster gibt. Hätte sie bloss besser geturnt.
Kiki schweigt also.
An einem Mittwochvormittag gibt der Lehrer Singunterricht. Auf dem Weg in den Singsaal fällt Kiki ein Papiertaschentuch aus der Hose. Der Sohn des Pfarrers weist den Lehrer darauf hin. Nach dem Unterricht heisst er sie noch da zu bleiben. Er will wissen, warum sie das Taschentuch fallen gelassen hat. Kiki ist verwirrt. Sie weiss von nichts. Er unterstellt ihr, das absichtlich gemacht zu haben. Kiki versteht nur Bahnhof. Warum sollte sie das tun?
Grau sagt, sie mache das nur, um ihre Eltern zu demütigen. Dieses Wort versteht Kiki nicht, ahnt aber Unheilvolles. Graus Stimme wird schärfer. Er tritt nahe an Kiki heran und sagt, dass sie Böses tue, damit die Menschen sich vor ihr bücken und erniedrigen müssten. Kiki ist starr vor Angst. Wird er sie schlagen?
Nein, Grau erzählt ihr, was er von ihr hält, wie böse sie ist. Und dass er am liebsten dafür sorgen würde, dass sie und ihre kleine Schwester den Eltern weggenommen würden. Er erzählt ihr, was er nun gerne mit ihr tun würde. Kiki macht sich vor Angst fast in die Hosen. Mit Mühe und Not unterdrückt sie die Tränen.
Wo ist der Vater? Warum sucht sie niemand?
Doch Grau redet unentwegt weiter. Sagt seltsame Dinge. Kiki weiss, wenn sie jetzt weint, hat sie verloren. Sie schweigt, denn sie hat Angst, dass er alle Drohungen wahr macht.
Yogi und Ursle wundern sich zwar, dass Kiki fast eine Stunde zu spät heimkommt. Sie fragen nicht, als das kleine Mädchen zitternd und bleich an den Tisch sitzt. Desirée, inzwischen sieben Jahre alt, ahnt, dass ihrer Schwester etwas Schreckliches passiert ist.
Doch Kiki sagt nichts. Sie fürchtet mehr als alles andere, dass Desirée und sie den Eltern weggenommen werden. Sie vermutet, dass es damit zusammen hängt, dass Ursle oft wütend auf sie ist.
Barbara, eine Freundin ihrer Eltern, hilft jeweils in den Ferien beim Grossputz. Sie bemerkt die Ängste des Mädchens. Eines Tages schenkt sie ihr einen kleinen Schlüsselanhänger in Form eines Turnschuhs. Sie sagt: „Wenn der Lehrer dich ärgern will, denk dran: Blos mir i’d Schue.“
Kiki trägt von da an den Schlüsselanhänger immer mit sich herum.
Sie, die immer gerne in die Schule gegangen war, fürchtet sich nun. Keiner kann es sich erklären. Doch weil Kiki nicht mehr spricht, fragt auch niemand.