9

Nach zwei Tagen erkrankt Ursle an einer Infektion und muss wieder ins Spital gebracht werden. Kiki fragt sich, wohin das alles führen soll. Ursle hat Angst. Sie hat immer wieder Mühe, sich zu orientieren. Nach ein paar Tagen, mittlerweile ist August, wird Kiki von einem Arzt angerufen, der ihr mitteilt, dass er Ursle entlassen wird. Sie wünsche sich, daheim zu sterben und Kiki soll alles in die Wege leiten. Kiki bekommt einen Nervenzusammenbruch. Sie weiss genau, dass ihre Mutter nicht mehr für sich sorgen kann. Innerhalb weniger Stunden würde sie sterben. Kiki fürchtet nichts mehr, als ihre Mutter tot in der Wohnung vorzufinden. Sie holt sich Hilfe bei ihrer Therapeutin, die bei der Stadt eine Gefährdungsmeldung einreicht. Sollte der Arzt Ursle trotzdem entlassen, würde das Spital für alles gerade stehen müssen. Dann läuft alles kreuz und quer. Kiki wird von der Mitarbeiterin des Sozialamts angerufen und zur Rede gestellt. Im Spital muss sie sich von den Ärzten Vorwürfe gefallen lassen. Ursle ist bei diesem Gespräch mit dabei, kann sich aber nicht mehr klar äussern.
Der Arzt schlägt Ursle schliesslich vor, ins Pflegeheim zu gehen. Nach Wil.
„Wil“, denkt Kiki, „Seltsam.“

Mittlerweile ist es Nachmittag geworden. Ursle atmet noch. Zwar selten, aber sie atmet. Sie lebt. Ihr ganzer Körper wirkt plötzlich wie ein Embryo. Kiki fühlt sich so unheimlich klein. Einsam. Der letzte Weg.
Priska sitzt auf der anderen Seite des Betts. Würdevoll. Geduldig.
Kiki streichelt die Hand ihrer Mutter.
„Du darfst gehen, Mami.“
Kiki weint wieder.
„Du lässt mich nicht alleine. Du warst für mich noch so lange da. Bitte lass los.“
Immer wieder wartet Kiki darauf, dass die Mutter die Augen öffnet und etwas sagt. Dann fängt sie an, weiter zu sprechen.

„Im Pflegeheim fühlte sich Ursle sofort wohl. Niemand stört sich an ihr. Keinen interessiert ihre Diagnose, ihre Geschichte, ihre Abhängigkeit. Die Pflegenden kümmern sich um ihr Wohl.
Kiki kommt fast täglich vorbei, bringt sogar ihre Katze mit, weil sich Ursle das gewünscht und es erlaubt ist.
Auf Druck des Sozialamts muss Kiki von ihrer Mutter die Unterschrift für die Kündigung der Wohnung einholen. Sie weiss genau, dass Ursle niemals ihre Wohnung kündigen würde. Sie tut es in einem Moment, in dem Ursle nicht bei Sinnen ist. Ihre Mutter fragt sie noch, was sie nachher tun soll. Kiki zuckt die Schultern. Die Mutter sagt:
„Nicht wahr, nachher kriege ich eine schöne, helle Wohnung mit Lift und Geschirrwaschmaschine.“
Kiki nickt.

Einen Tag später begreift Ursle, dass sie ihre Wohnung aufgegeben hat. Sie schreit Kiki an.
„Ich will dich in diesem Leben nie wieder sehen! Hau ab!“
Kiki geht.
Kiki bricht auf dem Flur zusammen. Die Stationsleiterin nimmt sie mit in ihr Büro und tröstet sie. Sie ermutigt sie, zurück zu Ursle zu gehen und zu sagen, dass sie nicht weg gehen wird.
„Schauen Sie in die Augen Ihrer Mutter. Sie werden darin nur Gutes entdecken.“
Kiki macht das. Ihre Mutter sitzt auf dem Bett und putzt sich die Nase. Wieder einmal Nasenbluten.
„Willste ‘nen Tampon?“
Ursle blickt Kiki überrascht an. Dann lacht sie. Sie lacht so laut, wie Kiki sie seit Jahren nicht mehr lachen gehört hat.
Sie umarmen sich. Die Mutter sagt:
„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich liebe, Kiki. Bitte verlass mich nicht.“

Das letzte Telefonat verläuft emotional. Kiki ruft sie auf dem Heimweg an. Ursle erzählt vom Besuch ihrer besten Freundin, die ihr ein jodelndes Murmeltier vorbei gebracht hat. Am Ende sagt Ursle plötzlich sehr ruhig:
„Ich wollte dir danken, für alles, was du für mich getan hast, Kiki. Ich habe dich sehr, sehr lieb.“

Das ist das letzte Mal, dass Kiki die Stimme ihrer Mutter hört. Sie ahnt, was nun kommen wird.“

Und nun sitzen sie da. Mutter und Tochter der Sterbenden.
Schacher-Seppli läuft auf der Musikwelle. Es ist Punkt 16.15 Uhr.
Die Schwester treten ein und wollen Ursle umlagern. In diesem Moment, die Schwester haben ihre Schulter berührt, macht Ursle einen letzten, tiefen Atemzug.
Ihre Augen blicken starr ins Leere.
Kiki erkennt eine letzte Träne.
Dann ist alles still.
Die Schwestern halten inne. Die Ältere nimmt ihren Puls. Ruhe.
Priska und Kiki sitzen noch immer da. Der Pflegedienstleiter kommt. Stellt den Tod fest. Kondoliert. Priska und Kiki umarmen sich. Sie sprechen kein Wort.

Vielleicht eine Stunde. Vielleicht auch nur ein paar Minuten. Ursles Körper liegt im Bett.
Ursle scheint zu grinsen. Noch ist ihr Kopf warm. Ihre Haut, senfgelb, die Lippen geschlossen. Keine Spur vom Todeskampf. Die Hände, noch maniküriert, der Lack von Chanel, gekreuzt. Blumen.
Kiki öffnet das Fenster.
„Ich glaube, sie braucht jetzt erst mal eine Zigarette.“
Priska blickt Kiki an. Dann lachen sie, um sich gleich weinend in die Arme zu fallen. Draussen scheint die Sonne. Es ist ein guter Tag, um zu sterben. Draussen fliegt eine Krähe vorbei.

Was bleibt, ist die Gewissheit. Nicht die Furcht vor dem Tod oder dem Sterben, sondern der Respekt vor dem Leben und das Wissen, dass alles im Leben seinen Sinn findet.

Ende

8.4.

Am selben Abend öffnet Ursle ihre Augen. Sie erblickt Kiki. Ursle lallt.
Ihr Gehirn funktioniert nicht mehr richtig. Durch die defekte Leber, die keine Giftstoffe mehr filtert, wird ihr Hirn langsam vergiftet.
Kiki versteht.
Es gibt keine Hoffnung mehr.
„Was machst du hier, Kiki?“ fragt die Mutter.
„Ich bin hier.“
„Dass ausgerechnet du am Ende hier bist, hätte ich nie gedacht.“
Dann schliesst Ursle wieder die Augen.

Die nächsten Tage sind geprägt von Schlaflosigkeit. Kiki weiss, dass Ursle jederzeit gehen kann. Sie hat ihre Telefonnummer bei den Schwestern hinterlegt.
Mitten in der Nacht wacht sie auf, Schweiss gebadet und gepeinigt von der Angst, die Mutter alleine gelassen zu haben.

Doch nach einer Woche zeichnet sich ab, dass Ursle nicht stirbt. Jetzt kommt die Dame vom Sozialamt, wir erinnern uns, Ursle kann nicht mehr arbeiten, kriegt Sozialhilfe. Die Dame macht Druck, sanft zwar nur, aber immerhin. Kiki soll innerhalb der nächsten Woche die Wohnung räumen.

Kiki mochte Ursles Wohnung nie besonders. Aber sie wusste, wie viel sie ihr bedeutet. Es ist ihr kleines Reich. Eine grosse 1-Zimmer-Wohnung, mit Waschmaschine, Dusche und grossem Bett mit Blick auf die Dächer der Stadt.
Als Kiki die Wohnung betritt, verschlägt es ihr fast den Atem. Es riecht. Besser gesagt: es stinkt. Die Wohnung riecht nach abgestandenem Rauch und Tod. Auf dem Herd steht noch immer eine Pfanne Gemüsesuppe. Verdorben. Verschimmelt. Der Boden ist schmutzig. Was früher einmal ein Teppich war, ist kaum zu erkennen. Überall Zigarettenasche und blutige Papiertaschentücher. Die Bettwäsche blutverschmiert von nicht endenwollenden Blutungen.
Kiki kämpft erneut gegen das Erbrechen. Und das nicht zum letzten Mal.
Sie packt Ursles Kleider, Kreuzworträtsel, Zigi-Packungen, Fotos ein.

Während Ursle im Spital liegt, telefoniert Kiki mit Ämtern, beruhigt Freund Hermann, holt Post, verschickt Post und kämpft immer wieder mit den Tränen.
Die Wohnung stellt sich als Sisyphos-Arbeit heraus. Ganz alleine soll sie alles räumen. Sie trägt säckeweise Müll heraus, verpackt Geschirr und Kleider, sortiert persönliche Gegenstände. Im Spital liegt Ursle, die jeden Tag darum bittet, nach Hause gehen zu dürfen. Doch da sie nicht einmal mehr selber laufen kann, ist dieser Wunsch in weite Ferne gerückt.

Zwischen Arbeit und Spitalbesuch räumt Kiki die Wohnung. Mehr als einmal liegt sie weinend auf dem Boden. Überall Schmutz und der Geruch der Einsamkeit.

Nach zwei Wochen im Spital soll Ursle verlegt werden. Man brauche das Bett, heisst es. Psychiatrie ist die nächste Station. Kiki versucht, sich dagegen zu wehren, ohne Chance. Ursle verbringt zwei Tage in einer Klinik, wo sie eine Gruppentherapie besucht. Kiki wird vom Stationsarzt zur Rede gestellt und nach ihrem eigenen Alkoholkonsum befragt. Sie kommt sich etwas doof vor.

8.3.

2007
Täglich telefoniert Kiki mit ihrer Schwester. Die beiden Frauen sprechen sich aus. Desirée schildert ihre Nöte, schreibt lange Briefe an alle Verwandten. Eines Abends weint Desirée. Sie hat mit Ursle telefoniert, die ihr seltsam vorkam. Ursle hat Desirée mitgeteilt, dass sie sie abtreiben wollte. Desirée rastet total aus. Kiki ist wütend, ruft die Mutter an und stellt sie zur Rede.
Die Schwester bricht den Kontakt zu allen Verwandten ab.

Eigentlich hätte Kiki bemerken sollen, dass irgendetwas mit Ursle nicht mehr stimmte. Zwar hatte diese schon seit mehreren Jahren Problemen, sich an Namen zu erinnern, doch nun wurde es von Monat zu Monat schlimmer. Kiki regt sich derart auf, dass sie für mehrere Monate den Kontakt abbricht.
Als sie im Juni beruflich nach Ebnat-Kappel reist, brechen sämtliche alten Wunden auf. Sie ruft Ursle an und sie sprechen über Ursles Kindheit, die Trauer und über all jene Dinge, für die sie nie Zeit hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfindet Kiki Ursle als nüchtern. Als sie fertig sind, bedankt sich Ursle für das Gespräch.

Juli 2007. Kiki wird 30 Jahre alt. Die Mutter ruft sie nicht an. Nimmt das Telefon nicht ab. Ein paar Tage später versucht Kiki es nochmals. Ursle nimmt ab, klingt aber sturzbetrunken, kann sich während des Sprechens nicht mehr wach halten. Am nächsten Tag wird Kiki im Geschäft von Priska angerufen. Ursle ist auf der Intensivstation. Es geht zu Ende.

Kiki hat Angst. Sie bemerkt, dass sie ihre Mutter seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hat. Sie haben immer nur telefoniert. Ursle wollte keinen Besuch, hatte keine Zeit dafür.
Als Kiki ins Spital geht, notabene dasselbe, in welchem ihr Bruder zu Tode kam, weiss sie nicht, was sie erwarten wird. Mit einem Mal wird der Gang schwer. Sie weint schon beim Eintreten. Da ist der schäbige kleine Kiosk neben dem Lift, der Blumenladen. Sie tritt in den Personenlift. Im vierten Stock steigt sie aus. Sie fragt nach dem Zimmer. Ursle liegt in ihrem Bett. Oder zumindest, was von ihr übrig geblieben ist. Die einst gross gewachsene, etwas pummelige Frau ist bis auf die Knochen abgemagert. Ihre Haut ist in dunklem Ocker gefärbt, die Augen senfgelb. Ursles Bauch sieht aus wie damals, als sie mit Sven schwanger war. Nur ist der Bauch nun aufgedunsen von Wasser. Über ihr Gesicht spannen sich feine, rote Spinnweben, ebenso über die Hände. Sie liegt bewusstlos da. Es riecht nach frischer Leber. Kiki geht nach draussen. Sie muss sich übergeben.

Als sie wieder zur Besinnung kommt, sie hat laut geschrien und alle anwesenden Schwestern auf den Platz gebracht, muss sie sich erst setzen. Sie keucht. Die Schwester beruhigt sie, will wissen, wann sie die Mutter zum letzten Mal gesehen hat.
Kiki weint noch mehr. Die Schwester seufzt.
Dann kommt ein Arzt.
Kiki will wissen, wie lange es noch dauert. Wie lange lebt sie noch?
Der Arzt räuspert sich.
„Ihre Mutter ist aus eigenem Verschulden in diesem Zustand…“
Kiki explodiert. Sie schreit den Arzt an.
„Ich weiss schon, seit ich ein Kind bin, dass meine Mutter am Alk sterben wird. Also sagen Sie mir jetzt endlich, was hier los ist!!“
Der Arzt sieht etwas belämmert aus.
„Sie müssen sich beruhigen.“
Kiki atmet tief durch.
„Ich will jetzt sofort wissen, ob sie eine Zirrhose hat oder am Korsakow-Syndrom leidet!!!“
Nun lächelt der Arzt beruhigt.
„Sie sind also vom Fach. Kommen Sie mit, ich erklär Ihnen alles.“
Das tut er dann auch.
Kiki versteht, dass ihre Mutter in den nächsten paar Stunden oder Tagen stirbt. Wenn sie Glück hat, dauert es noch ein paar Wochen. Wenn sie eine Infektion bekommt, gehts schneller. Kiki fühlt sich leer.

8.2.

Am Vormittag des 24sten Dezember wird Kiki von einer ihr unbekannten Nummer angerufen. Eine Freundin von Desirée informiert sie, dass sie sie in die Psychiatrie gebracht hat. Desirée habe versucht, sich umzubringen. Kiki schwankt. Ihre kleine Schwester wollte nicht mehr leben. Sie fühlt sich schuldig, weil sie ihr nicht sofort geholfen hat. Sie überlegt, was sie hätte unternehmen können. Kiki ruft in der Abteilung an, spricht mit dem diensthabenden Arzt, der kein Wort Deutsch versteht, informiert ihren Vater. Yogi bricht zusammen. Schliesslich ruft sie Ursle an. Diese wirkt angeheitert, aber betroffen, macht sich Vorwürfe. Kiki ist verstört. Trotz allem spricht sie sich mit Arzt und Pflegern ab. Sie geht ihre Schwester nicht besuchen.

Am Weihnachtsabend passiert etwas seltsames. Kiki ist eingeladen bei der Familie ihres Freundes. Das Fest hat ihr nicht besonders gefallen. Sie ist nachdenklich. Als sie über den Seedamm bei Rapperswil fahren, bemerkt sie eine grün gekleidete Person auf dem Brückengeländer, die gerade ins kalte Nass springt. Kiki alarmiert die Polizei, diese sucht den Körper des Selbstmörders während Stunden. Sie selber muss mitten in der Nacht genau zeigen, wo sie die Person gesehen hat. Es ist kalt, es schneit und Kiki ist todmüde.

Von nun an telefoniert sie jeden Tag mit Desirée. Sie sprechen über früher. Desirée schildert ihr viele Gedanken, die sie umtreiben. Sie leidet darunter, für ihre Mutter zwei Kinder zu sein. Sie spricht an, was Kiki oft gedacht, aber nie ausgesprochen hat: Desirée kriegte, im Gegensatz zu Kiki, nie eine Konsequenz in Form von Sprache zu spüren. Sie ist frei von jeglicher körperlicher Züchtigung aufgewachsen.

An Silvester sitzt Kiki auf dem Balkon ihres Freundes. Sie trinken Prosecco, sitzen nackt, in Wolldecken gehüllt da und sinnieren über die vergangenen Tage. Kiki blickt in den schwarzen Himmel hinauf. Es schneit. Innerlich zerreisst es sie fast. Sie ist unglücklich, weil sie ihrer Schwester nicht helfen kann. Sie ist wütend auf ihre Mutter, die so gar nichts mehr versteht und auf ihren Vater, der traumatisiert und traurig ist. Sie fühlt sich alleine. Dann fragt sie sich, was im nächsten Jahr werden soll. Sie fasst sich nie Vorsätze fürs neue Jahr, doch zum ersten Mal in ihrem Leben denkt sie, dass es von nun an nur besser werden kann.

8.1.

Ursles Alkoholkrankheit ist unübersehbar. Kiki leidet darunter, dass sie der Mutter nicht helfen kann und die sich keine Hilfe sucht. 1998 geht sie zur Alkoholberatungsstelle, damit sie Hilfe für ihre Mutter bekommt. Die Therapeutin, eine Deutsche, sagt ihr als erstes:
„Sie können nur sich selber helfen.“

Während sechs Jahren besucht Kiki nun eine Therapie. Sie arbeitet ihre Traumata auf. Sie verarbeitet den Verlust ihres Bruders, die Gewalt, den Missbrauch, die Angst und letztlich den Verlust ihrer Familie und vor allem ihrer Mutter.“

Priska und Kiki harren geduldig und gemeinsam am Bett von Ursle aus.
Sie atmet zwar noch, aber immer seltener. Um zwölf Uhr mittags kommt Schwester Klara. Sie ist erfahren und kennt sich aus mit Sterbenden. Klara ist Österreicherin. Sie untersucht Ursle.
Der Atemaussetzer dauert mehrere Minuten. Berührt steht Klara zwischen Priska und Kiki.
„Ich glaube, ihre Mutter und Tochter macht sich auf zu gehen.“
Sie warten zehn Minuten.
Plötzlich sackt Klara bewusstlos zu Boden. Ursle atmet wieder.
Eine Schwester muss Klara herausbringen.
Kiki muss grinsen.
„Ist das einer deiner Spässe, Mami?“
Ursle gibt keine Antwort.

„Kiki grenzte sich von ihrer Mutter ab. Sie konnte es nicht mehr mitansehen, wie sie sich zugrunde richtete. Sie war fest überzeugt, dass sie die Liebe zu ihrer Mutter erkaltet war. Da war zwar kein Hass, sondern nur noch Gleichgültigkeit.
Dies änderte sich auch nicht, als Desirée krank wurde.
Desirée war mit 17 ebenfalls in die Romandie gezogen. Dort hangelte sie sich von Job zu Job, von Mann zu Mann. Sie lernte einen Beruf, dann verlor sie ihre Anstellung. Desirée begann zu kiffen. Was genau sie dazu trieb, bleibt schleierhaft.

Kiki erinnert sich an Weihnachten 2006. Das Telefon klingelt. Desirée ist dran. Sie will wissen, ob sie sie in Fribourg abholen kann. Kiki ist etwas genervt. Sie ist bei ihrem Freund und dessen Familie eingeladen und hat nicht wirklich Lust, 300km zu fahren. Sie lädt die Schwester zu sich ein, bittet sie aber, den Zug zu nehmen. Desirée wird wütend, dann traurig. Sie fleht sie an, sie selber abzuholen, da sie unter Beobachtung stehe. Sie erzählt ihrer Schwester, dass man sie zur Prostitution zwinge. Kiki meint, sie solle die Polizei alarmieren. Das will Desirée nicht. Diese steckten mit den Verbrechern unter einer Decke. Kiki schwant böses. Sie vermutet, dass ihre Schwester unter einer psychischen Erkrankung leidet. Dies bestätigt sich, als Desirée ihr erzählt, dass sie nichts mehr essen und trinken darf, da alles vergiftet sei.
Kiki bittet ihre Schwester, sofort in eine Notfallpsychiatrie zu gehen. Sie versucht ihr zu erklären, dass sie sehr krank ist und sie sofort ärztlicher Hilfe bedarf. Desirée hängt wütend auf.

7.2.

Im Herbst 1996 wird Peter krank. Er ist lange erkältet, hat einen schlimmen Husten. Er trinkt noch immer täglich seinen Liter Rosé, raucht wie ein Schlot. Da er Angst vor dem Zahnarzt hat, sehen seine wenigen Zähne aus wie mit Kohle gefärbt. Er ist inzwischen 72 Jahre alt. Priska und Tante Hedj bringen ihn schliesslich für einen Untersuch ins Spital. Als er wieder aus der Besprechung kommt, ist er noch schweigsamer als sonst.
Die beiden Frauen wollen wissen, was los ist. Er blickt sie an und meint, ihm bleiben vielleicht noch 2 Monate.

Leberkrebs ist die Diagnose. Peter weiss als einziger, wie er sterben wird. Er sagt es weder Frau, noch Schwägerin und verbietet es auch der Schwester. Er beschliesst, zuhause zu sterben. Die Spitex kommt täglich. Er isst täglich weniger, hat weniger Durst. Seine einst rosige Haut wirkt plötzlich wie Pergament. Er wünscht sich so sehr, Weihnachten noch erleben zu dürfen. Er will seiner Familie das Fest nicht verderben.
Dann wird seine Haut senfgelb, ebenso seine Augen. Einzig seine blauen Augen leuchten noch immer wie früher.
An Weihnachten kommen sie alle ein letztes Mal zusammen: Ursle, ihr neuer Freund Hermann, Desirée, Kiki und Paulina. Sie versammeln sich an Peters Bett. Die Weihnachtsfeier verläuft mit weniger Geschenken als sonst. Die Krippe steht in der Ecke.
Peter kündigt an, mit jedem alleine sprechen zu wollen.
Zuerst ist seine Tochter an der Reihe. Dann Hermann. Später wird er erzählen, dass Peter ihm aufgetragen hat, bis zum Schluss für Ursle zu sorgen.
Kiki ist sichtlich bewegt, als der Grossvater sie empfängt. Er streichelt ihre Hand und sagt, dass er sich um sie als einzige keine Sorgen macht. Was auch immer sie tun wird, es wird gelingen. Doch dann wird sein Blick ernst.
„Du musst deinen Vater bitten, dass er mir alles verzeiht, was ich ihm in Wut an den Kopf geworfen habe. Ich hasse ihn nicht. Ich trage ihm nichts nach. Das musst du machen. Sonst kann ich nicht gehen.“
Kiki verspricht es ihm weinend.
Desirée, seine Lieblingsenkelin, umarmt er. Er bittet sie, so zu bleiben wie sie ist.

Kiki geht am nächsten Tag zu ihrem Vater. Er füttert gerade seine Kaninchen. Sie erzählt ihm, worum Peter sie gebeten hat. Der Vater nickt, stumm, mit Tränen in den Augen.
„Sag ihm, ich verzeihe ihm. Es ist alles vergessen und vergeben.“
Zehn Tage später ist es soweit. Peter stirbt.
Sein Todeskampf dauert nicht lange. Er weiss, dass er langsam sterben, ertrinken würde. Das Morphium hilft ihm. Er bekommt keine Luft mehr. Punkt acht Uhr, am 7. Januar 1997 macht er seinen letzten Atemzug, gehalten von Priska, die ihm alles vergeben hat.

Als Peter stirbt, spürt Kiki einen Stich. Die Mutter ruft sie im Geschäft an. Kiki ist traurig und gleichzeitig erleichtert. Der Grossvater muss nicht mehr leiden. Ein paar Tage später ist die Beerdigung.
In Lichtensteig, im Toggenburg, treffen sie sich alle. Ursle, Priska, sehr gefasst, Desirée und Peters Musikerkollegen. Gemeinsam begleiten sie den schmalen kleinen Sarg, der geschmückt ist mit billigen Blumen aus goldig bedrucktem Karton. Es hängen keine grossen Kränze, keine Blumenmeere. Desirée und Kiki weinen. Ursle erträgt das kaum. Sie schimpft mit ihren Töchtern, die sich so gehen lassen. Die beiden Schwestern halten sich an den Händen. Der Grossvater ist tot. Er wird nicht mehr wiederkehren.
Die Schwester, ihre Mutter und die Grossmutter laufen hinter dem Sarg her. Dann wird der Grossvater in seinem Sarg in die Erde eingelassen. In derselben Erde, auf dem gleichen Friedhof liegen schon seine Mutter, sein Vater und seine Stiefmutter.

7.1.

Weihnachten 1993. Kiki kehrt für die Weihnachtsferien zurück. Alles ist anders. Die Eltern reden nicht mehr miteinander. Desirée wirkt seltsam erwachsen. Am heiligen Abend schenkt die Mutter dem Vater ein teures Parfum. Dieser will es nicht und geht fort. Die Mutter wird wütend. Da passiert etwas Seltsames. Desirée geht in die Küche und räumt alle Messer und Scheren weg. Sie erzählt der Schwester, was wenige Wochen zuvor passiert ist.
„Sie will sich immer wieder umbringen.“
Als die Mutter wieder zur Ruhe kommt, eröffnet sie den Schwestern, dass Yogi und sie sich scheiden wollen. Kiki ist natürlich geschockt. Und erleichtert. Vielleicht wird jetzt alles wieder gut. Die Mutter erholt sich wieder und alle können in Frieden leben.

Die Scheidung verläuft nicht friedlich. Yogi hat sich inzwischen in Barbara verliebt. Diese hört ihm zu und gibt ihm Schutz. Ursle flüchtet sich noch mehr in den Alkohol. Sie zieht aus, geniesst das neue Leben in Freiheit. Zum ersten Mal seit 30 Jahren lebt sie wieder alleine. An die Scheidungsverhandlung kommt sie betrunken. Anders gehts nicht. Yogi kriegt das Sorgerecht, dass sie klar ausschlägt. Sie will Geld. Sie will endlich leben.

Zwar findet Ursle rasch neue Freunde, doch sie kommt von Yogi nicht los. Sie liebt ihn tief im Innern noch. Sie will Frieden schliessen. Sie kann nicht verstehen, nicht akzeptieren, dass Yogi keinen Kontakt mit ihr will. So reagiert sie unerbittlich. Wöchentlich ruft sie ihn an, beschimpft ihn und seine neue Freundin. Ursle ist verzweifelt. Yogi auch.

Kiki macht unterdessen eine Lehre in einer altehrwürdigen Confiserie. Ihre Lehrmeisterin ist eine ältere Dame. Sie hört Kiki zu und nimmt ihr Ängste. Kiki wohnt noch immer zuhause und versteht sich gar nicht gut mit der neuen Frau des Vaters. Sie fühlt sich fehl am Platz, vermisst es, dass sie nicht mehr die Vertraute des Vaters ist.

6.3.

“Ursle schlägt Kiki weniger, was wohl auch daran liegt, dass das Mädchen mittlerweile gleich gross ist wie sie. Einmal noch gibt sie ihr eine Ohrfeige, weil sie frech war. Kiki holt aus und schlägt zurück. Ursle weint.“

In jenem Moment klopft es an der Türe. Eine alte Frau im grünen Mantel, graues Haar in Dauerwelle, tritt ein. Die junge Frau fällt ihr um den Hals und weint.
Alte Hände streichen über das Haar.
„Hallo Kiki.“
„Wie gut, dass du da bist, Oma Priska.“
Priska tritt an das Bett ihrer Tochter und seufzt. Liebevoll streichelt sie über die Hände der Sterbenden.
„Jetzt ist es also soweit. Und ich bin noch nicht zu spät. Mein Kind. Mein Urseli.“
Benommen setzen sich die beiden ans Bett.
„Tante Hedj lässt ausrichten, dass sie an euch beide denkt.“
Kiki nickt.
„Sie hat auch schon angerufen.“
Die Sterbende stöhnt. Ihr Atem setzt immer mal wieder aus.
„Sie geht noch nicht.“
Priska blickt ihre Enkelin mitleidig an.
„Du warst seit gestern morgen da?“
Kiki nickt.
„Ich hab nicht geschlafen.“
„Unser Urseli darf bald einschlafen. Sie muss nicht hier bleiben.“
Sie streichelt ihrer Tochter über das Gesicht.
„Hat sich Desirée noch immer nicht gemeldet?“
Kiki schüttelt den Kopf.
„Nein. Keine Antwort. Ich glaube nicht, dass sie kommt.“
„Was ist denn bloss mit diesem Mädchen los?“

„Als Kiki sechzehn Jahre alt ist, zieht sie aus. Sie reist in die Romandie, wo sie als Au-Pair arbeiten will. Sie findet eine Stelle bei einer gutbürgerlichen Familie. Eines Abends lässt Kiki eine teure Glasschüssel fallen. Sie stürzt sich auf den Boden und schützt ihren Kopf. Madame findet das seltsam und bittet den Teenager wieder aufzustehen. Doch Kiki hat Angst. Als sie ihrer Madame erzählt, dass sie es sich gewohnt ist, geschlagen zu werden, erschrickt diese. Sie schickt Kiki zu einer Psychologin. Kiki schafft es, auf Französisch über ihre Familie Auskunft zu geben, damit sie Hilfe bekommt.

Yogi zerreisst es fast, als seine Tochter auszieht. Ursle und er streiten sich täglich. Kiki fehlt als Blitzableiter. Desirée bleibt zwar von den Streitereien unbehelligt, doch auch sie leidet. Ursles Abstürze häufen sich. An einem Abend ist sie mit einer guten Freundin unterwegs. Stark angetrunken kommt sie zurück nach Hause. Im Schlafzimmer trifft sie auf den schlafenden Yogi. Sie schlägt ihn. Er flüchtet sich in die Küche. Ursle greift nach einem Messer. Droht. Sie will ihn umbringen. Sie hasst ihn. Schreit ihn an, tritt ihn in die Hoden. Er erlebt Todesängste.
Desirée, aufgeweckt von Schreien tritt in die Küche, sieht die Eltern. Sie erstarrt. Der Vater ist ganz bleich, während die Mutter rot vor Wut leuchtet. Entschlossen geht Desirée zum Vater, stellt sich vor ihn hin und sagt:
„Du willst ihn töten? Dann musst du mich auch umbringen. So will ich auch nicht mehr leben.“
Ursle wankt, bricht zusammen.
Yogi holt nicht die Polizei. Wie soll er auch erklären, dass sie ihn terrorisiert, geschlagen hat, ihm Angst macht? Keinem Mann passiert das. Er schweigt. Doch die Nächte verbringt er nicht mehr zuhause. Er schläft von da an bei seiner Freundin Barbara, die ebenfalls aus dem ehelichen Haushalt ausgezogen ist.

6.2.

Ein paar Monate später, sie sitzt im Religionsunterricht und hört Lehrer Grau zu. Sie denkt über Gott nach. Sie mochte Gott eigentlich immer sehr gut leiden, obwohl er ihren Bruder weggenommen hatte. Sie liebte die Geschichten über Jesus und all seine Wunder. Ihr fiel auf, dass Lehrer Grau immer besonders freundlich redete, wenn es sich um Gott oder Aufklärung handelte.
Überhaupt, Aufklärung. Kiki wusste natürlich Bescheid über die Tatsachen des Lebens. Schliesslich züchtete ihr Vater Kaninchen und Hühner. Er hatte ihr alles erklärt. Ihr schien alles logisch.

Sie sass da und hörte dem Lehrer und seiner süsslichen Stimme zu. Sie fand das widerlich.
Nach der Stunde musste sie die Wandtafel putzen. Grau stand daneben und schaute ihr zu. Er beobachtete sie genau. Sie bekam Angst. Sie erinnerte sich an seine scheusslichen Bundfaltenhosen. Sie hasste sie und seine seltsamen gelben Hemden. Sein Grinsen.
Er stand neben ihr und beobachtete sie, wie sie putzte. Als sie damit fertig war und gehen wollte, sie sollte in die Nähschule gehen, hielt er sie zurück.

„Ich möchte, dass du noch etwas da bleibst, Kiki.“
Kiki erstarrte. Bitte nicht.
„Ich möchte dich etwas fragen, Kiki.“
Sie nickte unmerklich.
„Warum hast du die Büroklammer herunter geschmissen?“
„Büroklammer? Welche Büroklammer?“
Er zeigte auf eine blau glänzende Büroklammer am Boden.
„Diese hier.“
Kiki griff sich an den Hals.
„Heb sie auf.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Heb sie auf, Kiki.“ Seine Stimme klang schneidend.
Sie ging in die Knie und hob sie auf.
„Ich weiss genau, warum du das getan hast, Kiki.“

Kiki spürte den Kloss von Tränen in ihrem Hals. Sie schluckte sie herunter. Sie durfte nicht weinen. Sie musste ihn anschauen oder noch besser neben ihm vorbei und ruhig bleiben. Grau war wütend.

„Du wolltest, dass ich mich vor dir erniedrige. Dass ich vor dir in die Knie gehe. Du hältst alle Menschen um dich herum für minderwertig. Auch deine Eltern. Darum tust du das. Du bist ein sehr schlechtes Mädchen.“
Kiki hörte seine metallische Stimme. Sie wollte die Augen schliessen. Aber sie wusste, sie musste ihn anschauen. Denn sonst hätte er gewonnen. Sie durfte nicht weinen. Sie musste einfach so dastehen.

Grau redete weiter.
Kiki schloss innerlich die Augen. Sie wusste, dass etwas schreckliches passieren würde. Sie spürte, wie ihre Angst etwas anderem wich. Enttäuschung. Trauer. Schock. Sie sah, wie vor ihrem inneren Auge all ihre Lieben vorbei zogen. Ihr Bruder. Ihre Mutter. Ihr Vater. Ihre Schwester. Ihre Grosseltern. Sie standen an ihrem Grab und weinten. Das wollte sie nicht.
Sie fühlte sich, als ob sie in ihrem schwarzen dumpfen See um ihr Leben schwamm. Sie kämpfte.

Eine Stunde später geht sie nach unten in die Nähschule. Sie weint. Sie ist verstört. Doch kein Mensch fragt, was mit ihr passiert ist.

Dann geschieht etwas Seltsames. Kiki, die mehr denn je Zeit mit Schreiben verbringt, erschafft sich auf dem Papier eine Welt, die gut ist. Da sind Old Shatterhand und Winnetou, Old Surehand und Apanatschi, die sie bewachen und ihr helfen, dass ihr nichts Schlimmes passiert. Zwar hört sie jetzt in der Schule nicht mehr so gut zu, doch sie hat weniger Angst als vorher. Sogar Ursles Schläge machen ihr weniger aus. Schliesslich achten ihre Helden darauf, dass ihr nichts Schlimmes passiert. Wann immer Ursle ausrastet, sie schlägt oder schlagen will, wird Kiki von unsichtbaren Händen geschützt. Ihr passiert nichts. Die Angst ist zwar noch da, doch sie zerfrisst ihr Herz nicht.

Sie wird zwölf Jahre alt. In der Turnstunde hat sie zum ersten Mal ihre Periode. Vor Schreck fängt sie an zu weinen. Eines der anderen Mädchen erzählt dies Ursle, die sofort kommt. Lehrer Grau will wissen, was das Theater soll. Ursle meint nur „sie hat jetzt ihr Züüg“. Von jenem Tag an lässt Grau Kiki in Ruhe.